Es kam heute Morgen die Frage auf – ist es sinnvoll, mit einem autistischen Kind in Urlaub zu fahren?

Wie so oft – eine Pauschalantwort ist da kaum möglich.

Natürlich gibt es auch Autisten, und auch junge Autisten, die Urlaub lieben und für die er Teil der Jahresroutine ist und nicht fehlen darf. Das „Wohin“ und das „Wie“ machen sehr viel aus – ebenso wie einige andere Fragen.

Zunächst: Urlaub ist natürlich immer auch Stress. Urlaub ist Veränderung, Urlaub ist Verlust von Sicherheit und Ruhe. Urlaub bedeutet, dass gelernte und gefundene Mechanismen zur Beruhigung, die sich z. B. auf das eigene Zimmer, vertraute Gerüche oder Geräusche usw. stützen, nicht zur Verfügung stehen.

Gehen wir den Urlaub mal Schritt für Schritt durch.

Erste Fragengruppe:

Wie alt ist das Kind?
Versteht das Kind das Konzept „Urlaub“?
Versteht das Kind schon, dass ein Urlaub keine dauerhafte Veränderung ist?
Hat das Kind schon die Erfahrung gemacht, dass die Rückkehr in die sichere Umgebung immer kommt?

Gerade bei jüngeren Kindern dürfte das ein Problem sein – das Kind hat noch keine Erfahrungswerte, und es ist unter Umständen nicht einfach, überhaupt festzustellen, inwiefern das Kind versteht, was ihm gerade bevorsteht.

Zweite Fragengruppe:

Wie kommt man hin und zurück?
Welche Verkehrsmittel müsste man nutzen, um zum gewünschten Urlaubsort zu kommen?
Gibt es da bereits bekannte Probleme?

Hier kann es von Autist zu Autist extreme Unterschiede geben. Ich könnte im Notfall Zug fahren, müsste aber damit rechnen, mich von der Anstrengung der Fahrt erst mal eine Weile erholen zu müssen. Als ich das letzte Mal meinte, mit dem Zug in Urlaub fahren zu müssen (ja, blöde Idee) war ich nach fünf Tagen am Zielort dann an einem Punkt, an dem ich nicht mehr schlicht zu fertig war, um irgendetwas zu unternehmen. Zwei Tage später war Rückfahrt. Bus wäre für mich komplett außer Frage.
Andererseits gibt es auch viele Autisten, die mit Bus und Bahn gut zurechtkommen. Hier gilt ein individuelles Betrachten der Situation.

Dritte Fragegruppe:

Wo geht es eigentlich hin?
Wie viel ist dort los?
Wie groß sind die Unterschiede von zu Hause?
Wo kommt man unter?

Ich bitte, folgendes zu bedenken: Wir filtern sensorischen Input schlecht aus. Allerdings legen wir uns durchaus „Schablonen“ zu, die uns helfen, „gewöhnlichen“ Input besser zu tolerieren/ignorieren. Es ist möglich, dass diese Schablonen am Urlaubsort nicht mehr funktionieren.

Andere Orte riechen anders. An regionale Gewürze und Duftnoten, andere Pflanzen, Früchte, andere Hygienegewohnheiten denkt man eventuell noch. Es geht aber noch weiter: Das Meer riecht man auch relativ weit landeinwärts noch. Andersherum ist es ebenfalls so: Wer normalerweise in dem Bereich lebt, „riecht“ das Fehlen desselben.

Andere Orte klingen anders. Musik und Landessprache sind nur zwei Punkte. Andere Verkehrsmittel auf anderem Bodenbelag; andere Naturgeräusche; andere „Standardgeräusch“ (ist euch schon mal aufgefallen, dass das Klingeln, das z. B. eine Durchsage ankündigt, unterschiedlich klingt, je nachdem, wo ihr seid?)

Andere Orte sehen anders aus. Klar, aber neben dem sofort offensichtlichen: Andere Farben und Farbkombinationen herrschen vor, Ampeln benehmen sich anders (noch heute irritiert es mich z. B. wahnsinnig, wenn in Österreich die Ampeln anfangen zu blinken, bevor sie umschalten); Je nachdem, wo ich mich aufhalte, ist der Lichteinfall anders. Bin ich in Spanien oder Portugal, muss ich den Kopf anders halten, um das Sonnenlicht selbst mit Sonnenbrille für mich erträglich zu machen. Das wiederum führt zu einer anderen Wahrnehmung der Welt, mein „Blickwinkel“ stimmt nicht mehr, alles fühlt sich verschoben und falsch an. Zusätzlicher Stress entsteht mir dann durch den zusätzlichen Aufwand der Koordination meines Körpers.

Andere Orte fühlen sich anders an. Temperatur dürfte schon mal klar sein, aber auch beispielsweise die „Qualität“ des Winds kann eine Rolle spielen. Wind in den Bergen und Wind am Meer sind nicht dasselbe. Nur, weil ich das eine ertragen kann, heißt es noch lange nicht, dass ich mit dem anderen ebenfalls zurechtkomme.

Natürlich reagiert nicht jeder Autist auf alle diese Bereiche. Töne machen mir z. B. wenig aus, Licht und Gerüche dafür umso mehr. Anderen wird es anders gehen. Hier gilt es, einen Ausgleich zu schaffen, soweit irgendwie möglich. Eine Möglichkeit der Ablenkung, um den störenden Reiz besser auszublenden. Und ja – das kann dann unter Umständen auch bedeuten, dass das Kind eben mal einen Tag – oder auch große Teile jedes Tags – damit verbringen kann, sich in sein Spezialinteresse zu vertiefen. Oder etwa Pokemon Go spielt (Neben anderem kann übrigens auch schon der Fokus auf den kleinen Bildschirm helfen, einfach alles, was nicht in der VR-Sicht zu sehen ist, auszublenden. Klar, dann muss der Begleiter aufpassen, dass es nicht zu Unfällen kommt, aber das dürfte in vielen Fällen dem Overload durch unbegrenzten Input vorzuziehen sein! Nebenbei ist das Spiel ein genialer Fremdenführer, da die markierten Orte fast immer aus kultureller oder künstlerischer Sicht interessant sind, aber oft weit über die „üblichen“ Touristenattraktionen hinausgehen).

 

Natürlich fehlt im Urlaub erst mal der sichere Rückzugsraum. Hotelzimmer sehen nicht nur anders aus, als das zuhause, sie haben eine andere Akustik, sie riechen anders. Gerade Bettzeug hinterlässt nach der Nacht einen Geruch an mir, den ich noch den nächsten Tag über rieche. Wenn dieser dann nicht „stimmt“ – und das wird er in den allerwenigsten Fällen tun – brauche ich einen entsprechenden Ausgleich, um nicht ständig davon abgelenkt zu sein. Dasselbe gilt natürlich für hoteleigene Handtücher und vom Hotel bereitgestellte Duschbäder, Seifen, Shampoos. Wenn ich Pech habe, höre ich das Surren der Stromleitungen in der Wand. Oder Wasserrohre. Heizungsrohre. Menschen im Nebenzimmer.

Hier kann es entscheidend sein, ausreichend „Sicherheit“ von zu Hause mitzubringen. Kuscheldecke, Spielzeug, Bücher, vertraute Lebensmittel, die eigene Seife/Zahnpasta/etc. … Es kann hier sein, dass ein einziger besonders wichtiger Gegenstand vollkommen ausreicht, oder aber auch, dass man einen kompletten Zusatzkoffer packt. Wie bei allem ist das individuell sehr unterschiedlich.

 

Einplanen, im Notfall abzubrechen.

Sollte es gar nicht gehen, sollte die Möglichkeit bestehen, sowohl einzelne Aktivitäten, als auch den kompletten Urlaub abzubrechen. Wenn es dazu kommt, bitte nicht vergessen: Vorwürfe sind so ziemlich das schlimmste, mit dem ihr dann kommen könnt. Die Situation ist für das Kind in dem Fall dann auch nicht schön, sondern absolut unerträglich. NEIN, das Kind macht das nicht mit Absicht, um euch den Urlaub zu verderben oder „Macht“ auszuspielen. Das Kind hat den Punkt erreicht und überschritten, an dem der Urlaub zur Qual geworden ist. Dem Kind geht es ohnehin schon schlecht. Bestraft ihr euer Kind dafür, dass ihm übel ist, wenn es krank ist oder irgendein Lebensmittel nicht vertragen hat? Wohl eher nicht. Also bitte auch nicht dafür, dass es den Urlaub „nicht vertragen hat“. Mit jedem Mal, dass ihr versucht, eurem Kind für die Reaktion – für die es nun mal nichts kann, die noch nicht mal wir Erwachsene 100% vermeiden können, egal, wie viele Ausgleichsmechanismen wir aufbauen (die eure Kinder noch nicht in dem Ausmaß besitzen)! – ein schlechtes Gewissen zu machen und Schuldgefühle zu vermitteln – und ja, das können viele sehr, sehr gut – macht ihr es dem Kind auch entsprechend schwerer, wieder für andere Dinge offen zu sein.

 

Hat das Kind ein Spezialinteresse, würde ich übrigens dringend dazu raten, einen Urlaubsort zu wählen, der in dem Bereich etwas zu bieten hat, bzw. im Voraus nachzuschauen, was man dort zu dem entsprechenden Thema findet. Der Fokus, den das SI bringt, hilft wahnsinnig beim ausblenden anderer Dinge!

 

*

 

Wie war das nun bei uns?

Wir fuhren nicht im klassischen Sinne in Urlaub. Das lag allerdings weniger an den Autisten und mehr an anderen praktischen Gründen. „Urlaub“ fand bei Oma und Opa statt. Dort kannten wir uns aus, es waren bekannte Bezugspersonen da, wir kannten die Fahrt, wir kannten die Räume, es war eine Art zweites Zuhause. Von diesem sicheren Rückzugsort als Basis aus gab es Tagesausflüge.

Die wurden wiederum viel an unseren Interessen orientiert.

Später sind wir zweimal je ein Wochenende weggefahren, mit Hotelübernachtung. Das habe ich in sehr stressiger Erinnerung, Gründe siehe oben – aber etwa in dem gleichen Ausmaß wie Klassenfahrten mit Übernachtung, die ich zu dem Zeitpunkt ja schon kannte (aus den gleichen Gründen).  Auch da hatten wir unsere Sicherheiten entsprechend dabei.

Als der Gedanke an Zelten mit dem Reitverein aufkam, wurde das Zelt bei uns erst mal in den Garten gestellt, und freigestellt, im Sommer dort zu schlafen – mit der Option, auch nachts zurück ins Haus zu kommen.

Was wir uns als Kinder immer wahnsinnig gewünscht haben, war ein Wohnwagen oder besser noch Wohnmobil. Unsere Nachbarn hatten so ein Ding. Die Nachbarsjungs hatten dort ihre Betten, mit ihren Ecken, in denen sie ihre Sachen hatten… Das klang schon mal sowas von schön… quasi ein eigenes Zimmer zum Mitnehmen. Den Wohnwagen holten sie auch im Frühsommer bereits vors Haus (und nein, bei den Nachbarn war kein Autismus im Spiel, das gehörte bei ihnen einfach zum üblichen Ablauf), und solange er noch nicht für die Fahrt eingeräumt war, durften auch wir aus der Nachbarschaft mit dort drinnen spielen.

Eine Familie aus meinem engeren Kreis, ein Elternteil Autist, alle Kinder im Spektrum, hat einen Transporter selbst zum „Wohnmobil“ umgebaut und nutzte diesen über Jahre ausschließlich, um in den Urlaub zu fahren. Das Fahrzeug stand das ganze Jahr über auf dem Grundstück, wurde natürlich mit Gegenständen aus dem Haushalt ausgestattet, nahm den vertrauten Geruch mit usw. Unterwegs dient das Fahrzeug dann als sichere Basis, ähnlich wie für uns damals das Haus unserer Großeltern.

Mein Mann und ich wählen unsere Autos übrigens auch danach aus, dass man die Rückbank ganz flach legen kann, und haben alles hinten im Auto, was wir zum Schlafen bräuchten. Damit haben wir immer die Möglichkeit, in „unserem“ Raum zu nächtigen.

 

2 Gedanken zu “Urlaubszeit

  1. Ich tendiere mittlerweile dazu, zu wohnen, wo andere Urlaub machen. Unter einigen Monaten mochte ich eigentlich nie einen neuen Ort erforschen. Das ist ein Prozess. Nun würde ich Norddeutschland, Nordfriesland, gerne empfehlen, weil die Landschaft eine Reizarmut hat, die ihresgleichen hat. Einfach großes Nichts. Sehr wohltuend- wenn denn der Wind nicht wäre…Wer also so empfindlich auf Wind reagiert, der muss im Auto herumfahren. Ein toller Film.

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    1. Ich habe dort oben Bekannte und war auch schon dort… allerdings haben ich die größten Probleme mit dem „platten Land“, wo man „am Freitag schon sieht, wer am Sonntag zum Essen kommt“. Ich (komme aus dem Berg- und Waldland) fühle mich dort sehr exponiert, mir fehlt die optische Begrenzung des Sichtfelds, ich habe dort Null Fähigkeit, Entfernungen einzuschätzen … Das macht mir in dem Fall wesentlich mehr zu schaffen, als sonst irgendwas, weswegen ich mir für mich einen längeren Aufenthalt auch nicht vorstellen könnte, auch wenn es da oben echt tolle Sachen gibt!

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