sirharry
Sir Harry kurz nach Ankunft. Er teilt den Ankunfts-Quarantänekäfig mit einem zweiten Wellensittich, der zeitgleich aus der gleichen „Quelle“ bei uns ankam.

Sir Harry kam bei uns direkt aus dem Nest an. Ein kleiner Wellensittich, zu klein für sein Alter eigentlich, mit einem schlaff baumenden Fuß. Unverkäuflich.

Der Fuß, stellte sich heraus, war ausgerenkt. Das ließ sich beheben, etwas Tape am Vogel half anfangs bei der Stabilisierung. Der Fuß heilte, blieb aber immer irgendwie keiner und dünner als der andere, was uns zu der Annahme brachte, dass die Verletzung sehr früh passiert war.

Der Vogel war zu jung, um das Geschlecht zuverlässig zu bestimmen, wir nannten ihn Sir Harry Smith. Sir Harry stellte sich dann zwar als Lady Harriet heraus, behielt den Namen aber.

Nach der Quarantänezeit fand Sir Harry das Leben im Schwarm eigentlich ganz toll. Vielleicht ein bisschen zu toll. Harry war eigentlich ständig damit beschäftigt, alle zu ärgern. Der Vogel war der geborene Clown, zog an Schwänzen, klaute Futter, klemmte sich zwischen schnäbelnde Wellis, ….Er schaffte es sogar, zum Schlafen den Kopf auf Colbornes Rücken zu legen statt auf seinen eigenen. (Colborne ist so ein geduldiges, liebes Vögelchen, dass er einfach selbst ein bisschen zur Seite rutschte und es sich gefallen ließ…)

Oft ärgerte Sir Harry die anderen so, dass er einmal ordentlich vermöbelt wurde – dann war einen halben Tag Ruhe, und es ging von vorne los.

Jetzt ist es leider so, dass Wellensittiche in bestimmten Situationen sehr unsoziale Tiere sind. Beispielsweise wird ein krankes Tier sehr schnell aus dem Schwarm ausgeschlossen, Deswegen neigen sie dazu, Unwohlsein zu überspielen – häufig werden sie dann gerade besonders lustig und aufgedreht, wenn es ihnen nicht wirklich gut geht. Insofern war Harrys Überdrehtheit, auch wenn wir witzelten, der Vogel hätte wohl ADHS, schon ein Grund zur Aufmerksamkeit.

Ich war nur ein paar Tage abwesend, kam zurück und fand einen Vogel vor, der offensichtlich unter Grabmilbenbefall – auch als Schnabelräude bezeichnet – litt… und zwar so massiv, dass sich dieser Zustand eigentlich nicht während meiner Abwesenheit entwickelt haben konnte. Hatte er ja aber nun mal definitiv…

Der Vogel wurde also in einen Transportkäfig gesteckt, ins Auto gepackt und zum Tierarzt gebracht, der meine Diagnose bestätigte.

Grabmilben haben beim Wellensittich nichts mit mangelnder Hygiene zu tun – zumindest nicht im adulten Tier. Den Befall holen sie sich im Elternnest. Die meisten Wellensittiche leben damit aber, ohne dass der Befall jemals sichtbar wird, würden diesen aber an ihre Küken wieder weitergegen. Eine Übertragung zwischen adulten Vögeln ist annähernd ausgeschlossen.

Tritt nun durch irgendetwas eine Schwächung des Immunsystems ein – das kann eine Erkrankung sein, aber auch großer Stress, etwa durch Umzug/neuen Besitzer (deswegen entwickeln sich die Symptome oft auch in den ersten Wochen nach dem Kauf) – vermehren sich die Milben zu stark, und es kommt zu dem typischen Krankheitsbild. Das ist unangenehm für den Vogel, lässt sich aber gut behandeln. Nur, wenn man den Befall unbehandelt lässt, kann es zu bleibenden Schäden kommen oder den Vogel durch Zerstörung des Nasenbereichs und damit Beeinträchtigung der Atmung umbringen.

Sir Harry hatte innerhalb einiger Tage eine Symptomausprägung entwickelt, die ich normalerweise erst nach Wochen ohne Behandlung erwartet hätte. Andersherum sprach er zwar auf die Behandlung auch zügig an, aber eben nicht zügig genug, um die Reaktion als normal zu bezeichnen. Wir mussten die Behandlung insgesamt fast dreimal so lange wie üblich, fortführen, bevor wir ihn als soweit milbenfrei bezeichnen konnten – unter Vorbehalt. Bei Stress oder anderweitiger gesundheitlicher Beeinträchtigung könnte sich der Befall erneut vermehren – die Milben wirklich zu 100% loszuwerden ist nicht gerade wahrscheinlich.

Jetzt waren wir aber natürlich nochmal aufmerksamer, denn die einzig logische Erklärung war eine zugrundeliegende Erkrankung, die bislang nicht erkannt war. Da ich einen kompletten Schwarm halte, und keine Lust habe, mir irgendeine unbekannte Sache unter allen Vögeln zu verteilen, blieb Sir Harry also erst mal in Quarantäne. Zwar war es durchaus wahrscheinlich, dass er was-auch-immer, falls es ansteckend war, bereits im Schwarm verteilt hatte, aber nur auf die Möglichkeit hin dass eben doch nicht, wollte ich an der Stelle das Risiko nicht weiter erhöhen.

Das betreffend zumindest konnten wir nach ausführlichen Blut- und anderen Tests Entwarnung geben. Die Diagnose lautete am Ende: Allgemeine Immunschwäche; unbekannte Genese. Möglicherweise schlicht ein unzureichend entwickeltes Immunsystem.

Damit standen wir aber vor einer anderen Entscheidung: Es war davon auszugehen, dass dieser Vogel, wenn wir ihn in den Schwarm zurücksetzen, nicht besonders lange leben würde. Kontakt mit anderen Vögeln bedeutet auch Kontakt mit Vogel-Krankheitserregern. Naja, den Rest kann man sich denken.

Die Alternative war, ihn weiterhin als Einzelvogel zu halten, getrennt von den anderen. Seine Lebenserwartung wäre dadurch sicher höher gewesen.

Wir gingen nach reiflichem Überlegen den ersten Weg.

Oft wurde und wird das nicht verstanden. „Denk doch mal dran, was der Vogel wollen würde!“ hieß es dann.

Aber genau das haben wir gemacht. Der Vogel ist ein Schwarmtier. Einzeln gehaltene Wellensittiche sind eine traurige Sache. Egal, wie viel sich der Mensch mit ihnen beschäftigt, kein Mensch kann die Wellensittichgesellschaft ersetzen. Manch ein Halter redet sich das zwar gerne ein, doch dient das wohl eher dem Beruhigen des eigenen Gewissens. Es gibt meiner Meinung nach nur zwei akzeptable Gründe, einen Wellensittich in Einzelhaft zu halten: 1.) Der Vogel hat eine nicht behandelbare ansteckende, chronische Krankheit (diese gibt es, aber selbst dann wäre es besser, ihm wenigstens einen Partner zu besorgen, der ebenfalls positiv ist). 2.) Der Vogel ist aus irgendeinem Grund bereits so verhaltensgestört, dass er andere Wellensittiche angreift. Habe ich auch schon gesehen.

(Ich sage oben „wenigstens einen“. Zwei ist die absolut geringste Anzahl Wellensittiche, die man halten sollte. Dennoch möchte ich behaupten, jeder, der jemals einen ganzen „Schwarm“ beobachten durfte, wird zustimmen, dass zwei eigentlich zu wenig sind. Diese Tiere sind mit ihrem ganzen Sozialverhalten auf das Leben in einer Gruppe ausgerichtet. Meine persönliche Empfehlung würde dahin gehen, minimal vier Tiere zusammen zu halten. Den Platz muss man natürlich erst mal haben. Übrigens machen vier Wellensittiche wesentlich weniger Lärm als zwei, und bei acht ist meiner Erfahrung nach die Grenze, bei der man keine Geräusche mehr hört, die nicht zwitschern sind. Das Schimpfen, das durchdringende Rufen, das auch noch durch geschlossene Türen geht, all die unangenehmen Geräusche… Auch das ist für mich ein Hinweis darauf, dass diese Vögelchen eben erst in der großen Gruppe wirklich glücklich sind. )

Dementsprechend: Ja, der Vogel, wenn es seine Entscheidung wäre, würde in den Schwarm zurückwollen. Immer.

„Aber der versteht doch gar nicht, dass er dann schneller stirbt“, kam dann der nächste Satz.

Genau. Der Wellensittich lebt, soweit man das erkennen kann, eben nur im Hier und Jetzt, ohne Konzept der Zukunft. Dem ist es egal, was morgen ist, oder in einem Jahr. Für ihn ist das Leben eben eine Aneinanderreihung von Jetzt-Momenten. Und will ich wirklich die Anzahl der Jetzt-Momente vervielfachen, wenn es eben mehr *traurige* Momente werden, und ihm die Möglichkeit nehmen, eine geringere Anzahl von Jetzt-Momenten glücklich in der artgerechtesten Umgebung zu erleben, die ich ihm als Haustier in einem Haus ohne endloses Land zum Fliegen eben bieten kann?

Sir Harry verstarb im Alter von etwa 2,5 Jahren. Trotzdem bin ich auch rückblickend sicher, es war besser, ihm die Zeit, die er hatte, als Schwarmmitglied zu geben.

 

14 Gedanken zu “Sir Harry

  1. Ich hätte ganz genauso entschieden, das wird dich sicher nicht überraschen. Schwarm – Rudel oder Herdentiere in Einzelhaft zu halten ist Tierquälerei! Lieber etwas kürzer und glücklich leben, als lange endlos leiden. ♥

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      1. Klar… leider ist es bei Wellis wirklich so, dass ein sichtbar kranker Artgenosse aus dem Schwarm ausgeschlossen, nicht ans Futter gelassen usw. wird… d.h. da hat man selbst wenn keine Ansteckungsgefahr besteht eigentlich keine Wahl. Süß sind sie ja, die kleinen, aber gelegentlich wahnsinnig unsozial. Ich schätze Rücksicht kann man sich am Rand der Australischen Wüste aber nicht leisten.

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      2. Ist bei Hunden aber auch oft so, dass kranke oder behinderte Tiere schon mal aus der Gruppe gemobbt werden. Meine haben das zum Glück nie gemacht. Egal ob schlecht sehend oder mit Rollstuhl, auch unsere alte Dobermann Hündin ist bis zu ihrem Tod mit 18 Jahren als Chefin akzeptiert worden, obwohl sie schon wackelig auf den Beinen stand.
        In der Natur ist es aber oft eine Notwendigkeit, eine Gruppe ist immer nur so stark wie das schwächste Tier, da kann man sich sowas einfach nicht leisten.

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      3. Klar, in der Natur ist das ja ein Risiko für die ganze Gruppe/das Rudel/die Herde/den Schwarm. Allerdings sieht man auch da gelegentlich Ausnahmen. Da stellt sich dann bei mir die Frage nach dem warum. Da könnte man wieder wunderschön philosophische Fragestellungen ableiten.

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      4. Ich hab mal gesagt ich liebe alle Pferde.. dann traf ich eines, das mir (grundlos und aus tiefstem Herzen) unsympathisch war. Ist mir danach auch nie wieder passiert…

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      5. Habe ich so direkt bei Tieren noch nicht erlebt, klar gibt es welche die berühren mein Herz und andere mag ich weniger, aber so richtig Abneigung kenne ich nur bei Menschen.

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      6. Nee, das war so richtig, geh mir weg, möchte da keinen näheren Kontakt. War bislang auch das einzige Mal, ist fast 20 Jahre her. Ich habs dann mal so hingenommen. Irgendwas wird nicht gepasst haben.

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