Ich stehe auf Wörter.

Ich bin Linguist, ich darf das.

Manchmal stehe ich auch auf Wörtern, zum Beispiel wenn ich an das obere Regal muss und keine Trittleiter zur Hand habe. Ein Merriam Webster’s und zwei PONS und die Sache ist erledigt. Das ist aber was anderes und tut hier weniger zur Sache.

Gesprochen habe ich relativ spät, lange noch nur in der Familie. Zu verwirrend die Vielzahl der Wörter, und die ewige Unsicherheit, ob ich das richtige benutze. Die Suche nach der genauen Bedeutung dieser Wörter führte nicht nur zu einer ständigen Erweiterung nicht nur von Wortschatz und Sprachverständnis – sondern schließlich auch zu großer Freude beim Erlernen von Fremdsprachen.

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Wörter sind eine tolle Erfindung, denn sie erlauben uns, Sachen auszudrücken. Soweit klar, oder?

Wir haben allgemeinere Wörter, Sammelbegriffe, aber auch spezifischere Wörter.

Wenn ich „Fisch“ sage, mag der eine sich die gebratene Forelle von gestern Abend vorstellen, der andere einen Hai, der dritten hat grad das Märchen mit der Scholle gehört und der vierte denkt an die Neon daheim im Aquarium. Dann gibt’s immer noch den Schlaumeier, der einen Delphin im Kopf hat. (Das ist mein Blog. Hier muss ich kein „f“ schreiben wenn ich nicht mag!)

Der Bedeutungsumfang jedes Worts ist einzigartig.

Eine Sache, die das Lernen einer Sprache für mich besonders spannend macht, ist das Finden, Durchdenken und hoffentlich Verstehen dieser Eigenheiten. Das Neulernen von Wörtern die etwas ausdrücken, für das ich in einer anderen Sprache wenigstens einen erklärenden Nebensatz gebraucht hätte, empfinde ich als Bereicherung.

Die Umwelt, in der eine Sprache sich entwickelt, hat eine direkte Auswirkung auf die Sprache selbst, auf die Wörter in ihr. Damit meine ich nicht nur Neukreationen, sei es nun der Selfie-Stick oder das W-LAN, sondern auch lange etablierte Begriffe.
Für den Finnen oder Schweden wird Schnee im der Regel eine größere Rolle spielen als für den Ägypter. Das Finnische und das Schwedische tun sich beim Beschreiben von unterschiedlichen Schneearten und der implizierten Eigenschaften und Risiken derselben auch wesentlich leichter als das Arabische. Je enger der Kontakt der Sprecher mit einer Sache, und je wichtiger es ist, im Zweifel schnell Informationen geben zu können, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Sprache einen genaueren Begriff haben wird.

Ein Blick auf die Sprache sagt so auch einiges über die Sprecher aus. Der ewige Linguistenwitz, Spanisch hätte kein Wort für „pünktlich“, hat seine Berechtigung. Nicht, weil etwa im Wörterbuch hinter dem deutschen Wort „pünktlich“ auf der spanischen Seite ein großes Fragezeichen prangen würde, sondern weil die dort aufgeführten Begriffe eben nicht unbedingt unserem Verständnis von pünktlich entsprechen. „Auf den Punkt“, „genau zu dieser Zeit“ ist dort eher die Bedeutung. Das Konzept der Pünktlichkeit… nun, nicht so sehr. Die deutsche Pünktlichkeit entspricht eben nicht der dortigen Lebenswelt. Wozu sollten sie da ein Wort haben… Damit wir es im Urlaub leichter haben, uns über die Züge aufzuregen, die ja noch nicht mal zu Hause pünktlich kommen? Wohl kaum.

Was ist typisch deutsch/englisch/französisch/russisch? Als Linguist sage ich mal – immer die Sachen, die keine Übersetzung in eine andere Sprache haben. Spätestens aus den vielen „German words you should know“ Varianten auf Facebook und Co. dürften die Meisten wissen, dass der Feierabend, der innere Schweinehund, das Fernweh und wie sie nicht alle heißen, recht sprachspezifisch sind. Nicht ohne Erklärung übersetzbar ist aber auch das deutsche Durchsetzungsvermögen – und hätte eine von weniger ordnungs- und strukturliebenden Sprechern es geschafft, so viele wirklich wunderschöne Wörter für Varianten von „Chaos“ oder „Unordnung“ hervorzubringen? Wohl kaum.

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Begriffe und deren Verwendung wirken sich aber auch direkt darauf aus, wie wir die Welt wahrnehmen. Ob Türkis nun eher Blau oder eher Grün ist, da scheiden sich die Geister.
Das hier ist aber doch beides blau, oder?

blau

Einmal hellblau, einmal dunkelblau. Zwei Töne derselben Farbe. Blue. Bleu. Blau. Beides blau.
Für uns.
Für den Deutschen, den Engländer, viele andere.

Andere Sprachen unterscheiden diese Farben aber, geben ihnen unterschiedliche Namen. Sprecher dieser Sprachen nehmen das, was für uns Farbtöne sind, so unterschiedlich wahr, wie wir blau und grün, oder grün und gelb.

Wieder andere Sprachen kennen wesentlich weniger Farbbegriffe. Es gibt Sprachen, die Farbe überhaupt nur in „hell“ und „dunkel“ unterscheiden. Dann kommen Sprachen mit hell/dunkel/+ ein Wort für rot/gelb/braun (soweit ich weiß aber nie blau oder grün oder sonst was). Etc.

Hellblau/dunkelblau, celeste/azul? Zwei Varianten einer Farbe, zwei Farben?

Es ist nicht immer klar zu erkennen, wo Ursache und Wirkung liegen. Klar ist jedoch, Wahrnehmung und Sprache sind verbunden.

Natürlich kann der Sprecher einer Sprache mit drei Farbwörtern rein basierend auf den Fähigkeiten seiner Augen und seines Gehirns gelb von grün, blau von schwarz, violett von rosa unterscheiden. Genau wie wir im obigen Beispiel die linke Farbe von der rechten unterscheiden können.

Genau wie wir dort aber zweimal blau wahrnehmen, wird der in einem der obigen Sprachgebiete Aufgewachsene aber eben noch nicht einmal „blau“ empfinden. Er hat kein Wort für „blau“, das Konzept existiert entsprechend nicht für ihn, solange er seine eigene Sprache nicht verlässt.

Festzustellen, wo die Hintergründe dazu sind, ist spannend. Warum unterscheidet der Franzose zwischen vorher und nachher, während den Belgier nur interessiert, dass es „nicht jetzt“ ist? Ist egal? Also, mir nicht.

In dem Zusammenhang möchte ich auch auf 1984 verweisen. Ich denke wir erinnern uns alle an die Kunstsprache „Neusprech“. Wer es nicht tut, dem sei angeraten sich das Buch nochmal – oder erstmalig – zu Gemüte zu führen. Verkehrt ist das, was dort über die Wechselwirkung zwischen Sprache und Wahrnehmung gesagt wird, nämlich in den Grundzügen erst mal nicht.

Das Prinzip funktioniert natürlich nicht nur über Sprachen hinweg, sondern auch in Fachgebieten ein- und derselben Sprache. Damit meine ich nicht nur den echten Fachjargon. Wer mit Reittieren nichts am Hut hat, wird dazu neigen, jedes Exemplar von Equus ferus caballus übergreifend als „Pferd“ zu bezeichnen und – wichtiger – die Unterschiede auch nicht sehen. Rein physisch natürlich schon, aber der visuelle Input wird keine Bedeutung haben, die über die Information „Pferd“ hinausgeht. Für die meisten dürfte das auch reichen. Gespräche im Stall finden aber meistens etwas spezifischer statt. Wer das Welsh-Pony als Pferd anspricht erntet vielleicht ein kleines Grinsen. Aber schon mal einem Islandpferde-Fan zu seinem Pony gratuliert? Nein? Kleiner Tipp: Ich würd’s bleiben lassen. Und, um nochmal auf die Farben zu kommen – ich kann zwar im Deutschen die Farbe eines Schecken spezifizieren, indem ich die „bunte“ Fellfarbe beschreibend an das Wort anhänge – aber eine echte, statt beschreibende, Übersetzung für skewbald und piebald fehlt mir im Deutschen.

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Ich schätze eine gezielte Kommunikation. Je genauer, desto lieber ist mir ein Begriff. Sag‘ nicht zu mir „Bring Blumen mit“, wenn du Rosen willst. Oder eher: wenn du keine Rosen willst. Ich mag sie nämlich, die Rosen, und so ist die Rose schnell meine Standardblume.

Ich halte keine Vögel, sondern Sittiche und Papageien. Also, Vögel sind das natürlich schon, aber ich würde das nicht so sagen. Denn auch Finken sind Vögel, und ich würde freiwillig keinen Finken ins Haus lassen. Diese finde ich doch eher nervtötend und uninteressant.

Bouldern, Freeclimbing und Klettern haben gemeinsam, dass man irgendwo raufsteigt, aber ich würde bei der Einladung doch gerne wissen mich erwartet.

Auf meinem Schreibtisch, zu Hause im Büro, steht ein Telefon. Was sieht der Leser vor sich? Sicher nicht das, was ich hier neben mir habe: Schwarz, mit Wählscheibe, der Hörer mit geringeltem Kabel am Gerät befestigt. Warum? Weil ich noch eines habe und es mich optisch anspricht. Es ist mir sehr viel lieber als die programmierbaren schnurlosen, die immer irgendwo im Haus liegen und nie aufzufinden sind wenn man sie braucht. Drückt man auf die Klingeltaste ist die Batterie leer und sie rühren sich nicht… Nein, mein Telefon, das bleibt wo es ist, ist mir fürs Büro wirklich praktischer. Und klar, es ist ein Telefon, genau wie mein Blackberry und mein Privathandy Telefone sind. Und doch sind die drei Geräte nicht deckungsgleich. Das Telefon im Büro mag nicht verloren gehen, dafür kann es weder SMS schreiben noch Nummern speichern (Die sind dafür im ‚berry…). Verwechslung in der Praxis ausgeschlossen… in der Unterhaltung nicht immer.

Wo die Sprache, in der ich mich gerade bewege, „versagt“, bediene ich mich gerne auch mal anderer Sprachen – zumindest gedanklich. Ausgesprochen versuche ich es zu vermeiden, wobei wir zu Hause doch eine eher babylonisch anmutende Verständigungsweise pflegen. Da fliegen die Sprachen wild durcheinander, und wenn gerade keine richtig passt gibt es eben Varianten von „Darmok und Jalak auf Tanagra.“

Okay – ich mag also Wörter. Spezifische Wörter sind mir lieber als generelle Sammelbegriffe. Ich mag nicht „Baum“ sagen, wenn es eine Birke ist.

Und ich reagiere eher ungehalten, wenn man mir Wörter wegnehmen will.

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Deswegen – und nun komme ich nach über 1000 Wörtern auch endlich zum Thema – bin ich nicht glücklich über die nun nicht mehr völlig neue Zusammenfassung aller Varianten unter „Autismusspektrum“. Es ist mir zu vage. Es umfasst zu viel. Würde es nach mir gehen, hätten wir viel mehr Begriffe, um mit einem Wort Variationen auszudrücken.
Dass Mancher meint, sogar die geringe Differenzierung, die wir hatten, wegnehmen zu müssen, empfinde ich als Verlust.
Es ist für mich nicht ein Weg hin zum umfassenderen „akzeptieren“ unterschiedlicher Varianten, sondern vielmehr ein Auslöschen von Variationen, das der Wirklichkeit nicht entspricht. Es nimmt den Anwendern des Begriffs das Bewusstsein, dass Autismus eben nicht gleich Autismus ist.

Reinhard Mey singt „Ich bin aus jenem Holze geschnitzt…“ Es eignet sich nicht jeder Baum für Schachfiguren, Kuckucksuhren, oder auch als Hackklotz. Es kann auch nicht jeder Autist mit jedem andere Autisten gleichgesetzt werden. Es wäre nicht fair, den jungen Mann, der mir neulich auf dem Mittelaltermarkt mit seinen Eltern gegenübersaß, an meinen Möglichkeiten zu messen; kennt jemand nur das nonverbale autistische Kind irgendwelcher Bekannten und nimmt dieser jemand an, Autismus sei immer vergleichbar, wird er sich stark wundern zu hören, dass manche von „uns“ auch Unternehmen führen … keiner, den ich kenne, mag gerne mit Dustin Hoffman’s Rainman vergleichen werden. Autismus und Autismus, das ist genauso schlecht gleichzusetzen wie Baum und Baum.

Ich freue mich nicht über das Zusammenwerfen der Diagnose. Ich halte es für kontraproduktiv. Das hat auch nichts mit mehr oder weniger autistisch zu tun oder mit schwerer oder leichter betroffen, mit Glück oder Pech haben … es nimmt aber die ohnehin schon viel zu geringe Möglichkeit der Differenzierung und Spezifizierung vollends weg.

Ich mag Wörter, und ich möchte keines davon verlieren. Ich finde es auch nicht gut, wenn Leute pauschal behaupten, „wir“ würden die One-Size-Fits-All Diagnoseregel gutheißen. Die homogene Gruppe der gleich denkenden, gleich funktionierenden, in allem – oder auch nur in einem Punkt – übereinstimmenden Autisten gibt es nicht.

Und das ist auch gut so.

7 Gedanken zu “Aus jenem Holze…

  1. Danke für den spannenden Artikel. Ich sehe das aber ein bisschen anders. Bei Fachsprachen bin ich immer dafür, den konkreten Begriff zu verwenden, um sich so präzise wie möglich auszudrücken: „Schecke“ ist einfach zu wenig Aussage, wenn es auch ein „Fuchsschecke“, „Rappschecke“ und „Tigerschecke“ sein kann (obwohl das an sich auch ein absurdes Wort ist).
    Aber bei „Autismusspektrum“ finde ich die mangelnde Präzision gut. Kürzlich ist mir in einer Broschüre über Rassismus das Konzept von Entnennung verdeutlicht worden, das mir vorher so nicht bewusst war. Ich hoffe, ich gebe es richtig wieder. Es ging darum, dass Benennung von als andersartig Empfundenen im Gegensatz zur Nicht-Benennung von als vertraut Empfundenen diskriminierend wirkt und Distanz schafft. Als Beispiel:
    „Unerwartet wurde die Passantin von einem entlaufenen Hund angegriffen.“
    „Unerwartet wurde die Passantin von einem Cocker-Spaniel …“
    „Unerwartet wurde die brünette Passantin …“
    Ich versuche meinen Blick seither für dieses Phänomen zu schärfen und diese Form von Rassismus und Diskriminierung wahrzunehmen (und selbst zu vermeiden). Deswegen finde ich die Entnennung von Charakteristika, die manche Leute als Defizite bezeichnen/empfinden, positiv.
    Ich komme aus Köln, und da gilt immer noch: „Jeder Jeck is anders“ – ganz egal, welches Label ihm andere aufdrücken. Label können Menschen nie gerecht werden. Weg damit!

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    1. Aus dem Erleben als Autist muss ich leider zusammenfassend zu dem Schluss kommen, dass die „Entnennung“ von Eigenschaften ganz schnell zu einem „wegignorieren“ führt. Wird es nicht benannt, ist es auch nicht „real“ und muss nicht beachtet werden.
      Ich persönlich finde auch Sprüche wie „Sind wir nicht alle ein bisschen…“ (autistisch, etc.) sehr problematisch, da sie die sehr realen Schwierigkeiten Betroffener wegreden. Label sind aus meiner Sicht durchaus notwendig, um z.B. notwendige Unterstützung einfordern zu können. Langes, großes Thema… kann man viel und lange zu schreiben. Gibt wahnsinnig viele Aspekte an denen man ansetzen könnte. Lange Kommentare unter Artikel sind doch oft anstrengend zu lesen – drum frage ich jetzt, bevor ich Ausführlicheres schreibe, ob wirklich Interesse an Diskussion besteht, oder ob ich das einfach als Statement stehen lassen soll, wie es ist. (Für mich ist beides OK)

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  2. Hallo – wir müssen keine lange Diskussion draus machen. Ich kann deinen Standpunkt nachvollziehen. Und vielleicht ist auch meine Analogie mit dem Rassismus nicht ganz passend, denn dabei geht es um Ausgrenzung aufgrund sichtbarer Merkmale, während es dir glaube ich um Wahrgenommen-Werden trotz evtl. nicht vorhandener sichtbarer Merkmale geht? Da kann ein Label tatsächlich helfen (am besten ein selbst gewähltes).
    Danke für die Anregungen. Wieder was zum Nachdenken.
    PS: Das ist mir noch wichtig: „Jeder Jeck is anders“ ist nicht gleichbedeutend mit „Sind wir nicht alle ein bisschen alleinerziehend“ (z.B.) – es geht dabei nicht um Gleichmacherei, sondern um Individualität und das Recht eines jeden, so zu sein, wie er ist.

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    1. Eher geht es mir darum: Merkmale, die zu Rassismus führen, geben dem Betroffenen objektiv keinen Nachteil; es gibt keine „Rasse“, die per se in bestimmten Bereichen mehr Probleme hätte als andere, wenn es keine Idioten wie eben Rassisten gäbe.
      Behinderungen jeder Art bringen aber nun mal mit sich, dass es Einschränkugen gibt, die sich nicht wegreden lassen. Deswegen haben wir eben auch Anrecht auf das kleine Kärtchen, mit dem wir Ausgleiche einfordern können. Das hat so schon seine Richtigkeit, ob sichtbar oder nicht. Genau, wie ich den Blinden nicht einfach behandeln kann, wie einen Sehenden, indem ich erwarte, dass er Straßenschilder liest, den Gehörlosen nicht behandeln kann, wie einen Hörenden, indem ich erwarte, dass er die Durchsagen im Zug versteht, kann ich eben auch den Autisten nicht behandeln, wie einen Neurotypischen. Nur dummerweise kann ich eben auch Autist 1 und Autist 2 nicht identisch behandeln, weil „Autismus“ alleine viel zu viele Optionen beinhaltet.

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